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Das sind die Zahlen, die Paris–Roubaix zur Hölle des Nordens machen!

by Daniel

Was für eine Schlacht, was für ein Spektakel: Bernhard Hinault hatte in den letzten 25 Jahren kein Rennen mehr mit dieser Intensität gesehen, Ralph Denk nannte es „Radsport vom Feinsten“ und auch im Internet überbot sich die Fangemeinde in den sozialen Netzwerken und Foren mit Lobeshymnen. Um uns noch einmal vor Augen zu führen, was die Profis bei Paris–Roubaix eigentlich für eine Monsterleistung vollbracht haben, und warum Paris–Roubaix nicht umsonst die Hölle des Nordens genannt wird, hat uns Sportwissenschaftler Philipp Diegner den Höllenritt in sehr beeindruckenden Zahlen aufbereitet.

Paris–Roubaix Kopfsteinpflaster

So ein krass intensives Radrennen habe ich schon lange nicht mehr gesehen: Heftige Attacken, brutale Stürze, artistische Ausweichmanöver, unglaubliche technische Pannen beim Vorzeigeteam Sky – und am Ende „krampfte“ sich eine 5er-Gruppe knapp 20 Kilometer ins Ziel nach Roubaix. Eine Gruppe, in der jeder, wie Jens Voigt auf Eurosport treffend sagte, komplett „knülle“ war. Mathew Haymans Bild ist bezeichnend dafür, dieses Foto geht unter die Haut. Das war Werbung für den Radsport, besser geht’s nicht. Weiter so!

Mich würde nach dem Rennen aber vor allem interessieren, wie hart war das Rennen wirklich? Rein faktisch. Alle reden von der Hölle des Nordens und unglaublichen Qualen – zusammen mit Sportwissenschaftler Philipp Diegner aus Hamburg möchte ich das Ganze aber mal in Zahlen darstellen: Über meinen Twitter-Account bin ich vor einigen Monaten mit Philipp in Kontakt gekommen – in regelmäßigen Abständen analysiert er die Rennen der World-Tour in sehr ansprechenden Infografiken. Als Datenquelle dient ihm vor allem Strava. Schaut mal bei ihm vorbei – lohnt sich!

Von Philipp Diegner…

Paris–Roubaix 2016: Zahlen, Daten und Fakten

Paris-Roubaix-Fakten

43,9km/h – Mathew Hayman gewann Paris–Roubaix mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von knapp 44 km/h. Für die 254 km lange Strecke brauchte er 5:52 Stunden.

434 TSS – die Trainingsladung, von André Greipel (Lotto Soudal), die den Aufwand der Fahrt in Zahlen ausdrückt für das gesamte Rennen. Zum Vergleich: Eine zügige 180 min. Ausfahrt bedeutet ca.150 TSS.

1:12:42 – die Zeit, die Ryan Mullen (Cannondale Pro Cycling Team) während des Rennens oberhalb seiner Schwellenintensität verbracht hat (~442W).

321 Watt – die Leistung von Tim Declercq (Topsport Vlaanderen – Baloise) über 150 Minuten in der Ausreißergruppe mit dem späteren Sieger Matthew Hayman.

8,12W/kg – Reinardt Janse van Rensburgs (Dimension Data) Leistungsoutput relativ zum eigenen Körpergewicht, während der eigentlichen Attacke für 1:18min, die das Rennen mit entscheiden sollte.

6.610 kcal – Anzahl der Kalorien, die Rüdiger Selig (BORA ARGON 18) während 6:10 Stunden Wettkampf verbraucht hat.

Gewinner & Verlierer bei Paris–Roubaix 2016

Paris-Roubaix-gewinner-verlierer

Gewinner

Tom Boonen (Etixx-Quick Step):

Vielen hatten ihn bereits abgeschrieben. Sein 2. Platz bei Paris–Roubaix beweist aber, dass er trotz verlorener Explosivität immer noch konkurrenzfähig ist.

Orica GreenEdge:

Häufig als Underdogs bei den großen Rennen, zeigte das Team wieder einmal, wie man ein Rennen auch ohne Superstars prägen kann. Mit Hayman‘s Sieg hat das Team nun ein weiteres Monument auf dem Konto.

Mathew Hayman:

Ein toller und auch verdienter Erfolg für den Oldie.

Licht & Schatten

Team Sky:

Ein starker 3. Platz von Ian Stannard, ein unermüdlicher Luke Rowe und eine gute Teamleistung. Der große Sieg bei den Klassikern bleibt Sky jedoch erneut verwehrt. Unerklärliche technische Pannen werden für internen Diskussionsbedarf sorgen.

Sep Vanmarcke:

Sep Vanmarcke war erneut einer der stärksten Fahrer bei den großen Kopfsteinpflasterrennen. Bei Paris–Roubaix reicht es aber „nur“ zum vierten Rang.  Vergeudet er sein Potential?

Flops

Fabian Cancellara:

Cancellara konnte nach der knappen „Niederlage“ bei der Flandernrundfahrt diesmal nicht in den Kampf um den Sieg eingreifen. Ab KM 150 war er ständig auf der Verfolgung und ging so bei seiner letzten Ausgabe leer aus. Ein Sturz verhinderte schlussendlich jegliche Ambitionen.

Etixx-Quick Step:

Ein Team, wie es auf dem Papier stärker kaum sein könnte. Trotzdem brachte man wieder keinen Fahrer in die entscheidende Gruppe, musste viel arbeiten und am Ende war lediglich Tom Boonen in den Top 30 bei Paris–Roubaix.

Rennanalyse Paris–Roubaix

Paris-Roubaix-Rennanalyse-2KM 8 – erste harte Anstrengungen: Gedimas Bagdonas (Ag2r La Mondiale) fährt aggressiv und mit 372W (4.77 W/kg) für eine Geschwindigkeit von 47.9 km/h zwischen Kilometer 8-14.

46.2km/h – Geschwindigkeit von Christian Knees (Team Sky) in der ersten Stunde des Rennens.

KM 44 – die kurzen, intensiven Leistungen kommen hauptsächlich in den ersten beiden Rennstunden vor den Pavés. Hier Scott Thwaites (BORA ARGON 18) mit 639 W (9,26 W/kg) für 33 Sekunden.

KM 68 – die ENTSCHEIDENDE GRUPPE attackiert nach 68 km: Reinardt Janse van Rensburg (Dimension Data) ist einer der 16 Fahrer, er muss 412 W für ca. sieben Minuten erbringen, um vorne zu bleiben

KM 136 – Massensturz vor dem 8. Pavé, Monchaux-sur-Ecaillon! Etixx mit Boonen beschleunigen um u.a. Sagan und Cancellara zurückzulassen. André Greipel (Lotto – Soudal) benötigt 471 W für 2:06 min., beim Versuch, den Anschluss zu halten.

KM 150 – das Pavé bei Haveluy wird von Tony Martin angeführt und mit einer furiosen Geschwindigkeit gefahren, was die Gruppe auf eine kleine Elite reduziert. Koen de Kort (Team Giant-Alpecin), in Gruppe 2, fährt den Sektor mit über 42 km/h.

KM 190 – das Rennen ist jetzt rasant: Timo Roosen (Team LottoNL – Jumbo) absolviert die 25 km nach dem Arenberg mit 44 km/h. Nach Sektor 13 kommt es zum Zusammenschluss zwischen der Boonen-Gruppe und den Ausreißern.

KM 237 – am Carrefour de l‘Arbre versucht Sep Vanmarcke (Team LottoNL – Jumbo) wegzukommen. Er scheitert, wie in der Folge Boonen und Stannard. Um in einer der Spitzengruppen dabei zu bleiben braucht Oliver Naesen (IAM Cycling) 402 W (5.66 W/kg).

KM 254 – im Velodrome von Roubaix die große Überraschung: Matthew Hayman (Orica – GreenEDGE) hält Boonen und Stannard in Schach und gewinnt. Eine Runde (400m) im Velodrom wird von Jesse Sergent ( Ag2r La Mondiale) in 31 Sekunden mit 52.5 km/h absolviert.

Paris–Roubaix – die Rennzusammenfassung

Die 2016er-Ausgabe von Paris–Roubaix lässt sich im Rückblick in drei Abschnitte unterteilen: Es begann mit harten, unglaublich schnellen ersten 90 Minuten, in denen verschiedenste Gruppen versuchten, sich abzusetzen. Vor allem ambitionierte Teams wie Trek-Segafredo mit Stijn Devolder oder Team Sky waren bestrebt, sich mit einem vor dem Peloton platzierten Fahrer einen taktischen Vorteil zu verschaffen. Die hohe Durchschnittsgeschwindigkeit von 46,2 km/h in der ersten Stunde (302 W) sorgte bereits für die ersten Lücken im Hauptfeld und setze den Ton für ein schweres Rennen.

Nach ca. 70 km bildete sich dann eine 16-köpfige Spitzengruppe. Mit dem 7. der Ronde van Vlaanderen, Imanol Erviti (Movistar Team), Salvatore Puccio (Team Sky), Yaroslav Popovych (Trek-Segafredo), Matthew Hayman (Orica-Grennedge) und Reinardt Janse van Rensburg (Dimension Data) hatten einige starke Teams einen Fahrer in der Attacke vertreten.

Das Rennen blieb weiterhin hart, da erst Etixx-Quick Step und später auch Team Sky den Abstand für die nächsten 40 km nicht über eine Minute anwachsen ließen. Reinhard Janse van Rensburg musste in den ersten 30 Minuten der Attacke durchschnittlich 320 W erbringen, um bei einer von Rückenwind noch beschleunigten Geschwindigkeit von fast 48 km/h den Anschluss zu halten. Nachdem zwischen KM 98 und KM 113 die ersten vier Pavé-Sektoren absolviert waren, nahm die Geschwindigkeit im Peloton ein wenig ab, und die Spitzenreiter konnten den Vorsprung bis zum Sektor 20 „Monchaux-sur-Ecaillon***“ auf knapp 3:30 Minuten ausbauen.

Immer wieder sah es so aus, als könnten Sagan und Cancellara aufschließen, aber die unermüdliche Arbeit von Etixx-Quick Step (Tony Martin) verhinderte das.

Kurz vor diesem Abschnitt fiel dann eine Vorentscheidung im Rennen: Durch einen Sturz im Hauptfeld gerieten die Topfavoriten Fabian Cancellara (Trek-Segafredo) und Peter Sagan (Tinkoff) ins Hintertreffen – diese Chance nutzte Etixx-Quick Step, in Form von Tony Martin und Guillaume van Keirsbulck, und zog das Tempo mächtig an; ca. 30 Fahrer blieben übrig. Ab diesem Zeitpunkt verwandelte sich das Rennen in eine Verfolgungsjagd. Immer wieder sah es so aus, als könnten Sagan und Cancellara aufschließen, aber die unermüdliche Arbeit von Etixx-Quick Step (Tony Martin) verhinderte das. Die Athleten flogen über die nächsten Pavés (Haveluy**** mit über 42 km/h) und die Fahrer der Gruppe um Tom Boonen (Etixx-Quick Step) und Edvald Boasson Hagen (Dimension Data) werden immer weiter ausgedünnt.

So ging es für einige Zeit mit rasantem Tempo weiter, durch den Arenberg-Sektor, in der die Boonen-Gruppe nur noch eine Minute hinter den Ausreißern zurücklag. 15 Sekunden dahinter folgte eine kleine Gruppe um Sep Vanmarcke (Team Lotto NL-Jumbo), während der Abstand von Sagan und Co. (auch Niki Terpstra) auf über eine Minute anwuchs. Vorne kam es vor dem Sektor 13 (Beuvry – Orchies) zum Zusammenschluss zwischen den ursprünglichen Ausreißern und den Mannen um Boonen, Stannard und inzwischen auch Vanmarcke. Dahinter versuchten Cancellara und auch Sagan mit Kraftakten wieder heran zu kommen, aber scheiterten erneut. Sep Vanmarcke, zumeist dicht gefolgt von Tom Boonen, machte auf den schweren Pavés, insbesondere Nummer 10, Mons-en-Pévèle (KM 205), den stärksten Eindruck und fuhr immer wieder kurze Attacken, ohne sich jedoch entscheidend absetzen zu können. Auf dem gleichen Sektor endeten durch einen Sturz Cancellaras Siegambitionen bei Paris–Roubaix dann endgültig.

Vielen Dank lieber Philipp, eine Frage hätte ich aber noch:

Welches Rennen ist schwerer, die Flandernrundfahrt oder Paris–Roubaix?

Philipp: Beide Monumente des Radsports erwarten die Fahrer mit einzigartigen Herausforderungen. Seien es die unglaubliche Distanz (jeweils ungefähr 255 km), die berüchtigten „Hellingen“ in Vlaanderen oder die besonders rauen Kopfsteinpflaster im Norden Frankreichs bei Paris–Roubaix.

Während die Topographie der Ronde mit ihrem Auf und Ab ständige Rhythmuswechsel von den Fahrern abverlangt, ist Paris–Roubaix eher durch längere harte Phasen gekennzeichnet. Dies zeigt sich auch in den Leistungswerten: So erbrachte Alexander Kristoff „nur“ 256 W im Schnitt (bei 78kg Körpergewicht) auf dem Weg zu seinem vierten Platz bei der Flandernrundfahrt – im Vergleich zu 277 W von Koen de Kort (Team Giant-Alpecin) (71 kg) für einen 23. Rang bei Paris–Roubaix.

Die vielen kurzen, hochintensiven Anstrengungen bei der Flandernrundfahrt zeigen sich vor allem in der relativ hohen normalisierten Leistung (die gewichtete Power, die intensive Phasen stärker wertet) von 317 W (4,06 W/kg), welche bei der „Hölle des Nordens“ den Durchschnitt weniger signifikant übersteigt (300 W bzw. 4,23 W/kg).

Zur Bedeutung der Werte:

Solche Leistungen sind bei einer Dauer von über 6 Stunden für den „normalen“ Radsportler unglaublich: 4,23 W/kg ist eine solide Schwellenleistung, welche die Athleten über lange Zeiträume erbringen. Ausdauerkapazitäten in solchem Ausmaß sind ein entscheidender Faktor für die Potentiale der Profis und nur mit jahrelangem Training mit großen Umfängen realisierbar. Alexander Kristoffs anaerobe Schwelle ist im Bereich von 400 W (5,2 W/kg) angesiedelt. Während eines solchen Wettkampfs fährt er mehr als eine Stunde über diesem Wert. Fahrer, die weniger beschützt sind, also mehr Zeit im Wind verbringen, fahren sogar noch längere Zeiträume in diesen Intensitäten.

Kristoff‘s anaerobe Schwelle ist im Bereich von 400W (5,2 W/kg) angesiedelt.

Nicht zu unterschätzen sind auch die zusätzlichen Stressfaktoren, die beide Rennen mit sich bringen: Auf den engen belgischen Straßen, wird von den Fahrern ununterbrochen volle Konzentration abverlangt, gefährliche Stürze lauern hinter jeder Kurve. Auf den nordfranzösischen Pavés kommt der Paramater „Straßenverhältnisse“ hinzu: Das Rütteln auf den mythischen Pflastersteinen führt zu ganz speziellen Ansprüchen an die hochtrainierten Athleten bis hin zu blutigen Händen, die das Greifen des Lenkers erschweren. Solche Stressfaktoren sind in reinen Leistungswerten kaum zu quantifizieren und sorgen für den besonderen Reiz dieser Wettkämpfe.

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Zur Person – Philipp Diegner:

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  • Sportwissenschaftler – Master of Science (MSc) in Sports and Health Sciences der University of Exeter
  • Spezialisiert auf Trainingsplanung und Leistungsanalyse, insbesondere im Radsport
  • Eröffnet derzeit ein neues Trainingsinstitut im Raum Hamburg
  • Dienstleistung: fortschrittliche Leistungsdiagnostik, Ernährungsdiagnostik, umfangreiche und persönliche Trainingsplanung
  • Webseite noch im Aufbau; weitere Infos über ihn auf Twitter
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